Pressekonferenzen
Gesundheit in Wiens Klassenzimmern in Gefahr: 1.900 Kinder und Jugendliche teilen sich einen Schularzt oder eine Schulärztin
Nur noch 141 Schulärztinnen und -ärzte für 264.000 Kinder und Jugendliche in Wien
„Wir erleben derzeit in Wien bei der schulärztlichen Versorgung eine ausgesprochen problematische Entwicklung. Auf der einen Seite steigt der Versorgungsbedarf, andererseits sind die Zahlen der amtierenden Schulärztinnen und -ärzte dramatisch rückläufig, was negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befürchten lässt. Dieser problematischen Entwicklung muss schnell und wirksam gegengesteuert werden“, sagt Johannes Steinhart, Präsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien. „Wir haben Sie heute zu dieser Pressekonferenz eingeladen, um mit Ihrer Unterstützung in Gesellschaft und Politik Awareness für dieses Thema zu schaffen.“
Schulärztinnen und -ärzte nehmen an Wiens Schulen zentrale Aufgaben in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung wahr: Sie untersuchen einmal jährlich alle Schülerinnen und Schüler, beraten bei gesundheitlichen Fragen, unterstützen bei der Gesundheitserziehung und übernehmen Erste-Hilfe-Trainings für Lehrkräfte. An vielen Schulen sind sie auch die erste niederschwellige Anlaufstelle, bei gesundheitlichen Themen ebenso wie bei psychosozialen.
„Die Schule ist ein Spiegel unserer Gesellschaft“, führt Steinhart aus. „Wenn in einer Gesellschaft Aggressivität, Spaltungs- und Polarisierungstendenzen oder Gewaltbereitschaft zunehmen, oder wenn ein problematischer Konsum digitaler Medien negative psychosoziale Auswirkungen zeigt, dann spiegelt sich diese Problematik auch in den Schulen. Das gilt auch für einen ungesunden Lebensstil mit Bewegungsarmut und Fehlernährung, ebenso wie für die zunehmende Impfmüdigkeit und verbreitete Skepsis gegenüber medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen. Schulärztinnen und -ärzte haben hier eine umso wichtigere und auch zunehmend komplexere Funktion in der Früherkennung und Prävention.“
Dem steht allerdings eine krasse Unterversorgung mit Schulärztinnen und -ärzten gegenüber: Insgesamt gibt es in Wien nur noch 141 Schulärztinnen und -ärzte für rund 264.000 Schülerinnen und Schüler, wobei die Schülerzahlen in den vergangenen zehn Jahren um 15,7 Prozent angestiegen sind. Auf rund 1.900 Kinder und Jugendliche kommt heute nur noch eine Schulärztin oder ein Schularzt.
„Das Schularztwesen in Österreich ist ein Paradebeispiel dafür, wie das Kompetenz-Wirrwarr zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu einem Versorgungsengpass führt und die Auswirkungen der Pensionierungswelle bei Schulärztinnen und -ärzten weiter verschärft. Während in Wien die höheren Schulen (Bundesschulen) gerade noch alle Schularztstellen besetzen können, müssen bereits rund 130 Volks- und Mittelschulen (Pflichtschulen) mit mehr als 35.000 Schülerinnen und Schülern ohne regelmäßig anwesende Schulärztinnen und -ärzte auskommen. Mobile Schulgesundheitsteams der Stadt Wien schließen diese Lücke nur notdürftig“, sagt Steinhart.
Organisatorisch ist das Schularztwesen in Wien zweigeteilt: Für Bundesschulen ist die Bildungs-direktion zuständig, für Pflichtschulen hingegen die MA 15 (Gesundheitsdienst). Während an Bundesschulen aktuell rund 90 Personen im schulärztlichen Dienst arbeiten, sind es an Pflicht-schulen 42 Personen. Dazu kommen noch Schulärztinnen und Schulärzte, die Privatschulen betreuen.
Immer weniger Schulärztinnen und -ärzte für immer mehr Pflichtschülerinnen und -schüler
Steinhart zusammenfassend: „Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien fordert ein zeitge-mäßes schulärztliches Angebot: insbesondere eine ausreichende und flächendeckende schul-ärztliche Betreuung für alle Schülerinnen und Schüler, die Umsetzung überfälliger Digitalisie-rungsschritte, einen einfacheren Zugang zu Impfangeboten für die empfohlenen Schutzimpfun-gen und attraktivere Rahmenbedingungen der schulärztlichen Arbeit, um diese für Ärztinnen und Ärzte interessanter zu machen.“
Schulärztin oder Schularzt: erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen und psychosozialen Themen
Auch der Befund von Margit Saßhofer, Leiterin des Referats Schulärztinnen und -ärzte der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien, fällt kritisch aus: „Ich bin seit mehr als drei Jahrzehnten als Schulärztin in Wien tätig. An Pflichtschulen ist die Personalsituation in der schulärztlichen Betreuung prekär, zudem ist die Bezahlung vergleichsweise schlecht und der Zeitdruck hoch. An Bundesschulen ist der schulärztliche Dienst personell und finanziell zwar besser ausgestattet, aber auch hier steigen die Anforderungen und die Zeitressourcen sind knapp. Das liegt auch am eklatanten Mangel an Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Sozialarbeiterinnen und -arbeitern. Schulärztinnen und -ärzte decken heute eine große Bandbreite an gesundheitlichen und psychosozialen Themen ab und sind an vielen Schulstandorten die ersten Ansprechperso-nen für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitung und Eltern.“
Positiv hebt Saßhofer hervor, dass sich bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jah-ren und Jahrzehnten der allgemeine Gesundheitszustand einschließlich Zahngesundheit insge-samt verbessert hat. Gleichzeitig nehmen allerdings die alltäglichen Herausforderungen an allen Schulen stetig zu: „Die Themenpalette reicht hier von übermäßigem Medienkonsum der Schüle-rinnen und Schüler – Stichwort Smartphones und Social Media – über zu wenig Bewegung im Alltag, Übergewicht, Schlafmangel und mehr Allergien, bis hin zu immer häufiger auftretenden psychischen Problemen wie Angststörungen, aber auch Unsicherheiten bezüglich der sexuellen Identität.“
Großen Nachholbedarf sieht Saßhofer im Bereich Digitalisierung, denn aktuell steht Schulärztin-nen und Schulärzten keine einheitliche Software zur Erfassung und Auswertung von Gesund-heitsdaten in Schulen zur Verfügung: „Auf Basis einer zeitgemäßen Dokumentation und anonymi-sierter Analysen könnten wir gezielte, auf die lokalen Bedürfnisse gut abgestimmte Maßnahmen und Angebote umsetzen – etwa zu Bewegung, Ernährung oder Schutzimpfungen. Das würde nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch dem Gesundheitssystem langfristig zu-gutekommen.“
Saßhofer fordert weiters, die Rolle der Schulärztinnen und -ärzte zu stärken: „Gesundheitskom-petenz sollte in allen Schulstufen gefördert werden – insbesondere mit regelmäßigen Unterrichts-einheiten zu grundlegenden Themen wie Ernährung, Bewegung, Schutzimpfungen, Hygiene oder Suchtprävention.“
Präsident Steinhart und Saßhofer geben der Politik drei Prioritäten mit auf den Weg:
- Erstens braucht es in Wien eine wirklich flächendeckende schulärztliche Betreuung für alle Schülerinnen und Schüler, ausreichend Schulpsychologinnen und -psychologen so-wie Sozialarbeiterinnen und -arbeiter.
- Zweitens müssen endlich die überfälligen Digitalisierungsschritte gesetzt und eine ano-nymisierte Auswertung der Gesundheitsdaten von Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden.
- Drittens sollten alle Schülerinnen und Schüler in Wien einen einfacheren Zugang zu Impfangeboten für die empfohlenen Schutzimpfungen erhalten, wenn möglich direkt an ihrem Schulstandort.
„Alle Schülerinnen und Schüler in Wien verdienen eine gleichwertige schulärztliche Betreuung und niederschwellige Angebote in den Bereichen Prävention, Gesundheitsförderung und psycho-soziale Unterstützung. Unser gemeinsames Ziel muss es sein sicherzustellen, dass die Schule für alle Kinder und Jugendlichen ein sicherer und gesunder Ort ist. Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien stellt ihre Expertise in diesem wichtigen Themenfeld gerne zur Verfügung“, fasst Präsident Steinhart die Handlungsempfehlungen zusammen.
Pressekonferenz Unterlage Schulärzte (PDF)
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