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Telemedizin: Digitale Zukunft, die faire Rahmenbedingungen braucht

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Telemedizin: Digitale Zukunft, die faire Rahmenbedingungen braucht

Telemedizin kann Gesundheitsversorgung verbessern – Parallelstrukturen müssen vermieden werden 

„In Österreich ist die Telemedizin längst fixer Bestandteil der Gesundheitsversorgung und seit der Pandemie ist sie auch stark in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien informiert heute darüber, wie diese innovative Technologie ausgestaltet werden muss, damit zukünftige Entwicklungen im Sinne einer bestmöglichen Versorgung von Patientinnen und Patienten stattfinden – und sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für Ärztinnen und Ärzte einen klaren Zusatznutzen bringen“, sagt Johannes Steinhart, Präsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien.

Telemedizin findet in der modernen Medizin in sehr unterschiedlichen Konstellationen statt. Bei der Telediagnostik erfolgt die Befundung durch eine spezialisierte Ärztin oder einen spezialisierten Arzt an einem anderen Standort, während die behandelnde Kollegin bzw. der Kollege direkt bei der Patientin oder dem Patienten ist – etwa in der Teleradiologie oder Telepathologie. Telemonitoring wird in der Betreuung von chronisch Kranken eingesetzt, etwa bei Menschen mit bestimmten Herzproblemen. Beispiele sind die Online-24-h-Blutdruckmessung und die Überwachung von Herzschrittmachern, wodurch sich im Ernstfall die Reaktionszeit deutlich verkürzen lässt.
Beim Telekonsil handelt es sich um die konsiliarische Beratung zwischen zwei Ärztinnen bzw. Ärzten auf Basis vorliegender Befunde – etwa im Rahmen von Tele-Tumorkonferenzen.

Seit der COVID-19-Pandemie hat die direkte Online-Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten – also die Telekonsultation bzw. Videosprechstunde – stark an Bedeutung gewonnen. Diese Erfahrungen haben gezeigt, wie wichtig medizinische Betreuung auch aus der Distanz sein kann, etwa per Video, Telefon oder digitaler Befundübermittlung. Telemedizin kann den Zugang zur Versorgung erleichtern, Wege ersparen und gerade in der Nachsorge eine sinnvolle Ergänzung sein.

„In der Psychiatrie etwa liegt der Anteil telemedizinischer Leistungen bei 31,5%, in der Inneren Medizin bei 9,8%, in der Gynäkologie bei 8,6% und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei 8,2%. Auch in der Allgemeinmedizin, Dermatologie, Neurologie oder Pädiatrie wird Telemedizin genutzt – jeweils im Bereich von 5 bis 8%. Gleichzeitig zeigt eine europaweite Vergleichsstudie: Im internationalen Vergleich hat Österreich noch Potenzial nach oben, oft fehlt es aber an der notwendigen Infrastruktur, Integration und Einbindung“, sagt Steinhart.

Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien sagt daher klar: Ja, Telemedizin kann die Gesundheitsversorgung gezielt ergänzen, aber nur unter fairen, praxistauglichen Rahmenbedingungen. Wenn die Politik sie ausbauen will, dann nur mit Einbindung der Ärzteschaft, mit klarer gesetzlicher Grundlage, mit Investitionen in Infrastruktur, Schulung und Software und ohne Auslagerung an gewinnorientierte Drittanbieter.

„Wird medizinische Verantwortung ausgelagert, leidet die Versorgungsqualität. Wenn sich wirtschaftliche Interessen über medizinische stellen, verlieren wir Ärztinnen und Ärzte die Kontrolle über die medizinische Versorgung. Telemedizin darf kein Türöffner für Konzernisierung und Kommerzialisierung im Gesundheitssystem sein – sie gehört in ärztliche Hand, nicht in die Hände von Betriebswirten und Controllern“, sagt Steinhart.

Studie belegt: Nicht Ärztinnen und Ärzte bremsen, sondern das System

Die von Kathryn Hoffmann – Universitätsprofessorin an der MedUni Wien, Leiterin der Abteilung Primary Care Medicine, Ärztin und Public Health Wissenschaftlerin – koordinierte europäische Vergleichsstudie zur Nutzung von Videosprechstunden zeigt deutlich: Nicht Ärztinnen und Ärzte stehen der Digitalisierung im Weg, sondern fehlende strukturelle Voraussetzungen.

„Je besser Vertrauensärztinnen und -ärzte in nationale Digitalstrategien eingebunden wurden, desto häufiger und effektiver wurde Telemedizin genutzt“, sagt Hoffmann.

Zentrale Ergebnisse der Studie

  • Über 5.000 Hausarztpraxen in 38 europäischen Ländern wurden untersucht
  • Die Nutzung von Videosprechstunden liegt in Großbritannien, Skandinavien und Luxemburg bei knapp über 80%, Österreich unter 25% 
  • Technische Infrastruktur (z. B. Breitband-Internetzugang) ist entscheidend – nicht ärztliche Haltung

„Videokonsultationen sind also kein Ersatz, sondern ein ergänzendes Werkzeug mit klar definiertem Einsatzrahmen“, so Hoffmann.

Aufbauend auf dieser und weiteren Studien nennt Hoffmann zwei Empfehlungssäulen für Österreich, damit Telemedizin sinnvoll weiterentwickelt werden kann:

  1. Einbindung: Ärztinnen und Ärzte müssen von Anfang an in die Entwicklung technischer Lösungen eingebunden werden – bei Nutzerfreundlichkeit, Datenschutz und Integration in den Praxisalltag.
  2. Vertrauensverhältnis: Videokonsultationen funktionieren nur sinnvoll, wenn sie in eine kontinuierliche Betreuung durch Vertrauensärztinnen und -ärzten eingebettet sind. Isolierte Konsultationen bergen Risiken, etwa bei der Medikation ohne Verlaufsdaten.

„Wir brauchen keine Insellösungen, sondern integrierte Anwendungen, die im Versorgungsalltag funktionieren – und gemeinsam mit den Ärztinnen und Ärzten entwickelt wurden“, folgert Hoffmann.

Digitalisierung braucht Mitgestaltung der Ärztinnen und Ärzte

„Aus meiner Praxis weiß ich, worauf es in der Versorgung ankommt – dabei kann Telemedizin ein wertvolles Instrument sein“, sagt Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin und Kurienobfrau der niedergelassenen Ärzte der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien und selbst Hausärztin in Floridsdorf.

Voraussetzung sei jedoch, dass Telemedizin in ärztlicher Hand bleibt und nicht in Konkurrenz zur bestehenden Versorgung tritt. Denn nur die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt kenne die Patientin oder den Patienten persönlich: „Nur wenn wir über die Menschen, ihre Krankengeschichte und ihr Umfeld Bescheid wissen, kann Telemedizin sinnvoll und sicher eingesetzt werden. Anonyme Telemedizin birgt die Gefahr von Fehldiagnosen und falschen Entscheidungen – gerade bei chronischen Erkrankungen oder psychosozialen Belastungen.“ 

Als funktionierendes Beispiel nennt sie den Ärztefunkdienst Wien: Eine von der Kammer betriebene Einrichtung, die die medizinische Betreuung nachts, an Wochenenden und Feiertagen absichert – telefonisch oder per Video, ärztlich geführt, rechtlich eingebettet. 

„Der Ärztefunkdienst kann die Patientinnen und Patienten bei Bedarf an die Vertrauensärztin oder den Vertrauensarzt zurückverweisen oder im Zweifel auch selbst jemanden zeitnah hinschicken. Diese Verantwortung können Konzerne oder zentrale Gesundheitshotlines schlicht nicht übernehmen.“

„Im Jahr 2024 wurden über 210.000 Anrufe unter der Telefonnummer 141 verzeichnet. Mehr als 140.000 Patientinnen und Patienten konnten telemedizinisch betreut werden. Das zeigt: Telemedizin funktioniert, wenn sie richtig gemacht wird, und genau solche Modelle sollten ausgebaut werden“, sagt Kamaleyan-Schmied

Aktuell beobachtet sie jedoch eine Entwicklung in die falsche Richtung: „Unter dem Schlagwort Digitalisierung erleben wir den Versuch, zentrale Parallelstrukturen zu etablieren, an den Ärztinnen und Ärzten vorbei, ohne Systemintegration, dafür mit kommerziellem Antrieb.“
Außerdem sei die Etablierung teurer Doppelstrukturen zur Patientenlenkung kontraproduktiv: „Solche Parallelwelten machen das System nur teurer und verwirren die Patientinnen und Patienten.“ 

Besonders kritisch sieht sie Softwarelösungen, die ohne Mitwirkung der Ärzteschaft entstehen:
„Wenn wir nicht von Anfang an eingebunden werden, entstehen Tools, die an der Realität unserer Arbeit vorbeigehen, und statt zu entlasten, zusätzlich belasten. Was wir brauchen, sind anwendungsfreundliche, integrierte Systeme, und eine Digitalpolitik, die Ärztinnen und Ärzte als Mitgestaltende begreift.“

Telemedizin darf kein Geschäftsmodell werden

Für Präsident Johannes Steinhart ist klar: „Wir brauchen eine klare Absage an eine Konzernmedizin. Die Freiberuflichkeit der Ärztinnen und Ärzte und eine patientenorientierte Versorgungslogik dürfen nicht dem betriebswirtschaftlichen Denken geopfert werden. Wenn Telemedizin Teil unseres Gesundheitssystems sein soll, dann nur eingebettet in die bestehende Versorgung, nicht als eigenständige Parallelwelt.“

Auch Naghme Kamaleyan-Schmied unterstreicht: „Statt neue Strukturen am Reißbrett zu entwerfen, sollten wir bewährte Modelle wie den Ärztefunkdienst weiterentwickeln. Was wir brauchen, sind echte Investitionen in Infrastruktur, digitale Schulung und in den Praxisalltag – aber auch ein klares politisches Bekenntnis dazu. Nur dort, wo Vertrauensärztinnen und Vertrauensärzte ihre Patientinnen und Patienten sowie ihre Vorgeschichte schon lange begleiten, kann Telemedizin medizinisch sinnvoll eingesetzt werden, im Sinne der Patientinnen und Patienten.“