An: alle Ärzt*innen Wiens | |
Von: Präsident OMR Dr. Johannes Steinhart |
Sehr geehrte Frau Kollegin!
Sehr geehrter Herr Kollege!
In einer noch nie dagewesenen Ho-Ruck Aktion versucht die Politik, im konkreten Bund, Länder und Sozialversicherung, im Zuge der Umsetzung des Finanzausgleichs das österreichische Gesundheitssystem radikal umzubauen.
Die Ärzteschaft soll massiv geschwächt werden und der „Versorgung“ durch internationale, gewinnorientierte Konzerne ohne Mitsprache der Ärzteschaft Tür und Tor geöffnet werden.
Das alles:
- Ohne Gespräche mit der Ärzteschaft
- „Ausgepackelt“ hinter verschlossenen Türen als geheime Absprache
- Mit einem parlamentarischen Prozess von nicht einmal einem Monat
- Ohne öffentliche Begutachtung
Das ist ein unfassbarer demokratiepolitischer Skandal, der nur dazu dient, die Ärzteschaft als Player in der Gesundversorgung zu schwächen und Bund, Länder und Sozialversicherung alle Macht zu geben, damit nicht mehr medizinische Notwendigkeiten entscheiden, sondern Bürokratie, Politik und/oder die finanziellen Mittel.
Politik kündigt Sozialpartnerschaft im Gesundheitsbereich auf - Zerstörung des Gesamtvertrages
Der Gesamtvertrag entspricht einem Kollektivvertrag zwischen Ärzt*innen und Sozialversicherungsträgern. Er ist ein zentrales Element der Sozialpartnerschaft im Gesundheitswesen und stellt sicher, dass nicht der*die einzelne Kassenärzt*in mit einer übermächtigen Krankenkasse verhandeln muss.
Weiters ist geplant
VERLUST DER STELLENPLANKOMPETENZ:
- Der Stellenplan soll in Zukunft ausschließlich durch Bund und Länder geregelt werden. Die Ärztekammer hat somit keine Gestaltungsmöglichkeit mehr. Die medizinische Expertise bei der Versorgung wird gestrichen und kein*e Ärzt*in ist mehr davor geschützt, dass Bund und Länder gleich neben einem*r Kassenärzt*in, ein PVE oder eine Gruppenpraxis bzw. ein Ambulatorium ansiedeln.
- Die Ausschreibung von Kassenplanstellen soll ausschließlich durch die Sozialversicherung, OHNE Zustimmung der Ärztekammer erfolgen. Damit wird ein wesentlicher Schutz des Kassenvertrages, den die Ärztekammer bis dato den Kassenärzt*innen geben konnte, ersatzlos gestrichen.
STREICHUNG DES EINVERNEHMENS BEI DER GRÜNDUNG VON KASSENAMBULATORIEN:
- Die Krankenkasse kann statt freiberuflichen Ärzt*innen eigene Ambulatorien mit angestellten Ärzt*innen OHNE Mitsprachrecht der Ärztekammer gründen. Damit wird ein wesentlicher Schutz des Kassenvertrages, den die Ärztekammer bis dato den Kassenärzt*innen geben konnte, ersatzlos gestrichen.
VERLUST DER MITSPRACHE BEI GESAMTVERTRÄGEN:
- Die Abschaffung der Gesamtverträge auf Länderebene ist geplant. Die Tarife sollen mit Ende 2025 eingefroren werden. Ein österreichweiter Gesamtvertrag auf dem vermutlich niedrigsten Niveau ist die wahrscheinliche Konsequenz.
- Dort wo es keine Gesamtverträge gibt, sollen Sonderverträge für Ärzt*innen OHNE die Ärztekammer, geschaffen werden. Dies bedeutet, dass die Krankenkasse das Honorar einseitig vorgibt.
- Es sollen Sonderverträge für Ärzt*innen OHNE die Ärztekammer für neue Sonderleistungen geschaffen werden. Dies bedeutet, dass die Krankenkasse das Honorar einseitig vorgibt.
Wir haben uns immer zum Gesamtvertrag und der Sozialpartnerschaft bekannt. Doch mit der Aufkündigung der Sozialpartnerschaft auf Kosten der freiberuflich tätigen Ärzt*innen zwingt man uns zum Handeln. Der Gesamtvertrag schützt den*die einzelne*n Ärzt*in davor, dass die Sozialversicherung mit ihrer Monopolstellung das Honorar und die Vertragsbedingungen einseitig vorgibt. Damit erfüllt der Gesamtvertrag die Funktion eines Kollektivvertrags, wie ihn Arbeitnehmer*innen kennen.
Wenn die Politik und Gesundheitsbürokratie nun diesen Schutz der freiberuflich tätigen Ärzt*innen gegenüber dem Monopolisten Sozialversicherung aushöhlen und damit die Kolleg*innen zu Bittstellern der Sozialversicherung degradieren wollen, müssen wir handeln!
Unsere stärkste Handlungsoption ist die Aufkündigung des Gesamtvertrags. Das würde konkret bedeuten, dass die Patient*innen einen – im Gegensatz zu heute – fairen Preis für die ärztliche Tätigkeit direkt bei ihrem*r behandelnden Ärzt*in zahlen und von der Sozialversicherung eine minimale Kostenrückerstattung erhalten.
Ersatz der freiberuflichen Ärzt*innen durch internationale, gewinnorientierte Konzerne
VERLUST DER PARTEISTELLUNG IM AMBULATORIUMSVERFAHREN:
- Heute kann die Ärztekammer zum Schutz der niedergelassenen Ordinationen die Gründung von Ambulatorien massiv verzögern und erschweren. Der Hintergrund dazu ist ganz klar: Ambulatorien bieten überlicherweise die ärztliche Leistung billiger an als Ordinationen und Gruppenpraxen, da sie nicht durch den Gesamtvertrag geschützt sind. Das ist der Politik ein Dorn im Auge.
- Zukünftig soll die Gründung von Ambulatorien deutlich erleichtert und dadurch internationalen Konzernen der Einstieg in den „Gesundheitsmarkt“ ermöglicht werden.
Das Ergebnis sehen wir teilweise in Deutschland: Große Konzerne, die ganze Ambulatoriumsketten betreiben, in denen die Ökonomie prioritär gegenüber der medizinischen Versorgung ist.
Ein weiterer Effekt ist, dass der Weg in die Freiberuflichkeit für angestellte Ärzt*innen dramatisch erschwert bis verunmöglicht wird.
Neue Gesundheitsbürokratie statt Entlastung der Ärzteschaft, Verschlechterung für Patient*innen
WIRKSTOFFVERSCHREIBUNG:
- Seitens Politik und Gesundheitsbürokratie ist geplant, dass in Zukunft keine Medikamente, sondern ausschließlich der jeweilige Wirkstoff verordnet werden darf.
- Einzige geplante Ausnahme, der die Verordnung eines Medikaments ermöglicht, ist wenn der*die Ärzt*in am Rezept eine maschinenlesbare Begründung, warum ausschließlich ein bestimmtes Produkt benötigt wird, vermerkt.
Das heißt: Statt der notwendigen Entlastung der Ärzt*innen, müssen mühsame Aufklärungs- und Überzeugungsgespräche stattfinden, um die Patient*innen zu überzeugen, dass das bekannte Medikament durch das billigste Produkt mit demselben Wirkstoff ersetzt werden muss und dass auf spezielle Bedürfnisse der Patient*innen keine Rücksicht genommen werden darf.
Bürokratiemonster: Codierung
ÄRZTLICHE DOKUMENTATION:
- Eine verpflichtende gesetzliche Codierungspflicht nach ICD ist für Kassen- und Wahlärzt*innen vorgesehen. Dies beinhaltet auch die verpflichtende Weiterleitung an die Sozialversicherung.
Statt der notwendigen Entlastung der freiberuflichen Ärzt*innen, kommen neue Bürokratiehürden auf die Ärzteschaft zu.
WAHLÄRZT*INNEN:
- Ab 1.1.2026 sind Wahlärzt*innen verpflichtet E-Card und ELGA zu verwenden. Dies bedeutet konkret, dass Patient*innen, die bei Wahlärzt*innen ohne E-Card und Elga-Anbindung behandelt, von der Sozialversicherung wahrscheinlich keine Kostenerstattung bekommen.
Die Wahlärzt*innen sollen damit an die „Bürokratie-Kandare“ genommen werden, damit auch diese Tätigkeit endlich weniger attraktiv ist.
AUSBILDUNG:
- Im Rahmen der Ausbildung ist geplant den zweiten Facharzt für den Erhalt der Ausbildungsberechtigung in den Spitälern ab 1.1.2024 abzuschaffen. Die Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung werden somit weiter verschlechtert, um möglichst schnell Arbeitskräfte auf den Markt zu bringen.
Ärztekammer ist der Politik ein Dorn im Auge
Mit den geplanten Maßnahmen geht es der Politik nicht um eine Verbesserung der medizinischen Versorgung, sondern darum, den Einfluss der Ärztekammer bei der Gestaltung unseres Gesundheitssystems zurückzudrängen.
Unsere Kritik an unsinnigen, zu wenig durchdachten oder für die Versorgung schädlichen Vorhaben der Politik sowie unser engagierter Einsatz für die Interessen der Patient*innen, ist manchen Playern im Gesundheitssystem ein Dorn im Auge.
In Zukunft will man es sich leichter machen, deshalb sollen Politik und Sozialversicherung das alleinige Sagen haben.
Der Preis der „Reform“: Politisierung, Bürokratisierung, Konzernisierung
Der absehbare Preis dafür: Eine Politisierung, Bürokratisierung und Konzernisierung des österreichischen Gesundheitssystems. Unser Beruf als Freier Beruf droht zusätzlich unter Druck zu geraten, wenn Politiker*innen, Bürokrat*innen oder Betriebswirt*innen entscheiden, wie wir unsere Patient*innen zu behandeln haben. Solche problembehafteten Trends werden ganz sicher keine Verbesserungen für die Gesundheitsversorgung unserer Patient*innen mit sich bringen.
2024 droht somit auch – aufbauend auf den laufenden Aktivitäten der Wiener Spitalsärzt*innen für bessere Arbeitsbedingungen seit dem Jahr 2022 – für die niedergelassenen Ärzt*innen ein Jahr massiver gesundheitspolitischer Auseinandersetzungen zu werden.
Die dargestellten gravierenden Entwicklungen werden wir selbstverständlich nicht einfach so hinnehmen. Wir haben beschlossen, uns gegen die geplanten Änderungen mit unserer ganzen Kraft zur Wehr zu setzen. Der Protestmarsch der angestellten Ärzt*innen am 4. Dezember 2023 ist ein erster Schritt.
Es liegt an uns Wiener Ärzt*innen, unseren freien Beruf gegen alle Angriffe aus Politik und Gesundheitsbürokratie zu verteidigen. Das schulden wir unseren Patient*innen.
Die nächsten Wochen sind entscheidend für die medizinische Versorgung ganzer Generationen in Österreich lebender Menschen.
Gehen wir es gemeinsam an!
Das verspreche ich Ihnen.
Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.
Mit kollegialen Grüßen
Johannes Steinhart
Präsident