Pressekonferenzen
Wiener Gesundheitsinfrastrukturreport 2025 stellt das Wiener Gesundheitssystem auf den Prüfstand: Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Lösungsansätze
„Die Situation ist alarmierend: Ärztinnen und Ärzte stehen unter enormem Zeitdruck und Patientinnen und Patienten leiden unter den langen Wartezeiten. Das führt zu einer Abwanderung von Ärztinnen und Ärzten in andere Bundesländer oder ins Ausland. Wir haben es mit einem Verlust von Fachkräften und Know-how zu tun, den wir uns nicht leisten können.“
Johannes Steinhart
Präsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien
Ineffizienz, mangelnde Investitionen und fehlende Strategie verursachen Unzufriedenheit mit dem Wiener Gesundheitssystem
Das soziale, solidarisch finanzierte Gesundheitssystem ist massiv gefährdet. Die aktuelle Erhebung zeigt die große Unzufriedenheit der Ärzteschaft mit der Gesundheitsinfrastruktur in Wien. Auf Basis verfügbarer statistischer Daten und Forschungsergebnisse sowie qualitativer und quantitativer Befragungen wurde im dritten Gesundheitsinfrastrukturreport der aktuelle Zustand des Wiener Gesundheitssystems erhoben. Lediglich fünf Prozent geben an, damit sehr zufrieden zu sein, während die Mehrheit die Situation kritisch bewertet. Im Vergleich zu 2018 ist dies eine Verschlechterung um 20 Prozentpunkte. Als Hauptgründe nennt der Bericht Ineffizienz, mangelnde Investitionen und das Fehlen einer klaren Strategie.
Die Ergebnisse im Detail
- Acht von zehn Ärztinnen und Ärzten halten die Investitionen in das Gesundheitswesen für unzureichend.
- 82 Prozent sehen keine klare Strategie für die Zukunft des Wiener Gesundheitswesens und dessen Infrastruktur, sondern sprechen von „Stückwerk“.
- Besorgniserregend ist auch die Einschätzung zum Effizienzverlust: Die Ärzteschaft beziffert die „Einbußen durch mangelnde Abstimmung im Wiener Gesundheitssystem“ auf 43 Prozent – fast zehn Prozentpunkte mehr als in den Befragungen 2018 und 2020.
- Defizite im niedergelassenen Bereich: 80 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzten sehen hier das größte Verbesserungspotenzial und den dringendsten Aufholbedarf.
- Die Anzahl der Kassenärztinnen und -ärzte hat seit 2010 um rund zwölf Prozent abgenommen, während die Wiener Bevölkerung um 20 Prozent gewachsen ist.
- Sieben von zehn Ärztinnen und Ärzten sehen besonders großes Verbesserungspotenzial in den Spitälern, das sind um zehn Prozentpunkte mehr als noch vor sieben Jahren.
- Der Report dokumentiert einen Abbau von 878 Betten (-6,4 Prozent) im öffentlichen Spitalsbereich im Zeitraum 2020 bis 2025, während im gleichen Zeitraum die Bevölkerung um 6,1 Prozent gewachsen ist.
Prognosen der Statistik Austria zeigen, dass die Bevölkerung Wiens bis zum Jahr 2050 auf über 2,3 Millionen anwächst und dadurch der Anteil der über 65-Jährigen von aktuell 17 Prozent auf 22 Prozent ansteigt. „Angesichts der wachsenden und alternden Bevölkerung ist es notwendig, in Zukunft die Ausbildung in medizinischen Berufen noch attraktiver zu gestalten. Ebenso müssen für einen nachhaltigen Einsatz medizinischer Ressourcen Ärztinnen und Ärzte in die strategische Planung und Weiterentwicklung der Gesundheitsinfrastruktur miteinbezogen werden. Beispielsweise wurde in Wien mit den Erstversorgungsambulanzen (EVA) die Versorgung von Patientinnen und Patienten, die kein hochspezialisiertes Angebot brauchen, außerhalb der Spitäler in vorgelagerten Ordinationen längst erfolgreich umgesetzt. Für eine optimale Betreuung müssen die Nahtstellen zwischen intra- und extramuraler Versorgung nachhaltig verbessert werden, um die Patientenversorgung erfolgreich in Richtung ‚Best Point of Care‘ weiterzuentwickeln. Insgesamt müssen die bestehenden Ressourcen besser genützt, und zusätzliche Ressourcen in das Gesundheitssystem investiert werden“, erklärt Johannes Steinhart, Präsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien und der Österreichischen Ärztekammer, die Ergebnisse des Wiener Gesundheitsstrukturreports 2025.
Genug gewartet: Eine Ärztin bzw. ein Arzt für 3.100 Personen ist zu wenig
Ein zentrales Problem im niedergelassenen Bereich sind die langen Wartezeiten infolge von Überlastung. Während die Bevölkerung stark wächst, nimmt die Zahl der Kassenärztinnen und -ärzte kontinuierlich ab. 2013 kam in Wien eine Kassenärztin oder ein Kassenarzt für Allgemeinmedizin auf durchschnittlich 2.200 Menschen. Heute sind es bereits 3.100 Patientinnen und Patienten je Ärztin bzw. Arzt. „Das ist eine Mehrbelastung für uns Ärztinnen und Ärzte von über 40 Prozent. Um Wartezeiten spürbar zu verkürzen und die medizinische Versorgung der Wiener Bevölkerung zu sicherzustellen, müssen die Verantwortlichen sofort handeln. Eine starke, wohnortnahe Kassenmedizin ist entscheidend, um eine flächendeckende und kosteneffiziente Vorsorge gewährleisten zu können“, betont Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien und Kurienobfrau der niedergelassenen Ärzte.
Der Bericht hält fest: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sind die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten und sollen diese zentrale Rolle auch weiterhin behalten. „Der Ausbau und die Attraktivierung von Kassenarztstellen sind zentrale Aufgaben der Wiener Gesundheitspolitik. Es braucht eine deutliche Aufwertung des niedergelassenen Bereichs sowie leistungsgerechte Rahmenbedingungen. Faire Tarife, weniger Bürokratie und flexible Arbeitsmodelle sind die Voraussetzung, um genug Medizinerinnen und Mediziner für das Kassensystem zu gewinnen. Dazu zählen flexible Arbeitszeitmodelle, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern, beispielsweise durch die Möglichkeit Kassenstellen zu teilen oder Vormittagsordinationen anzubieten. Ebenso wichtig sind eine faire Honorierung von Arztgesprächen zur Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung oder etwa gezielte Unterstützung bei Praxisgründung und -übernahme“, erklärt Naghme Kamaleyan-Schmied.
Weniger Spitalsbetten bei wachsender Bevölkerung
Mehr als drei Viertel der Patientinnen und Patienten und 90 Prozent der Ärztinnen und Ärzte denken, dass das Gesundheitssystem nicht an das Bevölkerungswachstum angepasst wurde. „Die Reduktion der Bettenzahlen in den Wiener Spitälern muss daher strikt im Kontext des medizinischen Fortschritts erfolgen. Durch den Ausbau der tagesmedizinischen Versorgung im Spital kann bei geringerer Bettenanzahl die Versorgung der Patientinnen und Patienten ohne Qualitätsverlust gewahrt werden“, so Eduardo Maldonado-González, Vizepräsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien und Kurienobmann der angestellten Ärzte.
Ein besonders dringliches Problem sieht Maldonado-González im fehlenden medizinischen Fachpersonal in den Spitälern: „Nicht von ungefähr ist für 80 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte die ‚Attraktivierung des Berufsbilds der Spitalsärztin bzw. des -arztes‘ sehr wichtig. Wien steht österreichweit im Wettbewerb um die besten Fachkräfte, die Wiener Spitäler leisten einen wichtigen Beitrag zur überregionalen Versorgung der gesamten Ostregion. Um den Spitalsstandort Wien für medizinische Fachkräfte attraktiver zu machen, muss vor allem bei marktkonformen Gehältern, einer fairen Entlohnung von Sonderleistungen der Ausbildungs- und Dienstplan-Verantwortlichen und flexiblen Karrieremodellen angesetzt werden. Ebenso sollten pensionierte Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit haben, freiwillig weiterzuarbeiten, denn wir brauchen dringend Ausbildnerinnen und Ausbildner sowie Mentorinnen und Mentoren für unsere Nachwuchskräfte. Die Wiener Spitäler brauchen Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass Ärztinnen und Ärzte gerne dort arbeiten, Patientinnen und Patienten sich gut versorgt fühlen und gemeinwohlorientierte Träger Planungssicherheit und Qualität garantieren können.“
Digitalisierung und effizienterer Ressourceneinsatz
Die befragten Expertinnen und Experten sehen in der Digitalisierung eine große Chance für die Gesundheitsinfrastruktur. Die Erwartungen der Bevölkerung an den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in Hinblick auf bessere Diagnostik und Behandlung sowie frühzeitiges Erkennen von Krankheiten sind dabei höher als jene der Ärzteschaft. Aus ärztlicher Perspektive liegt das Potenzial von KI derzeit insbesondere in der Auswertung bildgebender Verfahren sowie in der Entlastung administrativer Tätigkeiten, etwa durch automatisierte Zusammenfassungen oder Übersetzungen. „Wir Ärztinnen und Ärzte sind den Umgang mit Innovationen gewohnt und befürworten daher neue Möglichkeiten. Wichtig ist aber, dass die Ärzteschaft die KI-Entwicklungen in der Medizin mitgestaltet. Bei der Anwendung im medizinischen Bereich muss planvoll und verantwortungsbewusst vorgegangen werden, damit der Einsatz von KI nicht aus dem Ruder läuft und wir von den Entwicklungen nicht überrollt werden. Die Letztverantwortung muss stets bei den Ärztinnen und Ärzten liegen und ersetzt nicht die ärztliche Expertise und Entscheidungsbefugnis. KI-Anwendungen sind auch kein Ersatz für die Arzt-Patient-Beziehung“, so Steinhart. Effizienzpotenziale von KI in der medizinischen Verwaltung müssen durch gezielte Lösungen und praxisorientierte Anwendungen konsequent ausgeschöpft werden, um Ressourcen zu entlasten und die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern.
„Mehr Effizienz und nachhaltige Finanzierungsmodelle sind die Grundlage, um langfristige Planungssicherheit für Investitionen zu schaffen und das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem zu sichern. Angesichts der steigenden Lebenserwartung werden die quantitativen und qualitativen Herausforderungen an das Gesundheitswesen in Wien in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Es gilt die Kapazitäten auszubauen und auch neue Wege zu finden, um weiterhin die bestmögliche medizinische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Setzen wir uns an einen Tisch und schaffen wir gemeinsam zukunftsweisende Lösungen für unser solidarisches Gesundheitssystem“, appelliert Steinhart an die gesundheitspolitischen Verantwortlichen.
David Ungar-Klein, Autor des Gesundheitsinfrastrukturreports bilanziert: „Der demografische Druck auf das Wiener Gesundheitswesen nimmt massiv zu. Allein das erfordert eine erhebliche Anpassung der medizinischen Infrastruktur. Die Einschätzung der Ärzteschaft zu Ineffizienzen und mangelnder Abstimmung im Gesundheitswesen sind schlichtweg alarmierend. Die Unzufriedenheit mit der Wiener Gesundheitsinfrastruktur wächst weiter stark an – das ist eine Entwicklung, der sich die Wiener Gesundheitspolitik aktiv stellen muss.“
Der dritte Wiener Gesundheitsinfrastrukturreport stützt sich auf das bewährte, sozialwissenschaftlich fundierte Diagnoseverfahren von Create Connections, das bereits in verschiedenen Infrastrukturmonitorings erfolgreich eingesetzt wurde. Im ersten Teil werden zentrale Aspekte der Wiener Gesundheitsinfrastruktur auf Basis verfügbarer statistischer Daten, Forschungsergebnisse und Befunde analysiert. Zur Konkretisierung von Themen und Fragestellungen wurden zusätzlich 35 leitfadengestützte Interviews mit Expertinnen und Experten durchgeführt. Zudem fanden repräsentative Befragungen unter rund 1.000 Wienerinnen und Wienern sowie 1.230 Ärztinnen und Ärzten – sowohl aus dem niedergelassenen als auch aus dem stationären Bereich – statt.
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