null Kinderarmut und Kindergesundheit

 

Kinderarmut und Kindergesundheit

Eine Umfrage der Ärztekammern in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Salzburg, Vorarlberg und Kärnten in Zusammenarbeit mit der Volkshilfe Österreich zeigt alarmierende Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhangs von Kinderarmut und Kindergesundheit. Armut beeinflusst demnach das gesamte Leben und jeden Lebensbereich und damit auch die Gesundheit und das körperliche und psychische Wohlbefinden armutsgefährdeter Kinder.

Wien, 6. Oktober 2021 – Bereits zum zweiten Mal baten Ärztekammer und Volkshilfe Ärztinnen und Ärzte um ihre professionelle Einschätzung des Zusammenhangs von Kinderarmut und Kindergesundheit in Österreich vor dem Hintergrund ihrer tagtäglichen Praxis.

Nach der ersten Umfrage aus dem Jahr 2019 wurde diesmal auch der Einfluss von Corona miteinbezogen. Auch der Frage, wie stark bereits Säuglinge und Kleinkinder gesundheitlich betroffen sind, wurde in der Umfrage nachgegangen. Teilgenommen haben 448 Ärztinnen und Ärzte aus sechs Bundesländern.

Für den Präsident der Wiener und Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres, ist es ein erschreckendes Zeichen, dass fast ein Fünftel der österreichischen Bevölkerung armuts- und/oder ausgrenzungsgefährdet ist. Darunter fallen fast 350.000 Kinder und Jugendliche. „Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt im Herzen Europas. Armut ist in Österreich aber nach wie vor ein Thema, und es wird weitgehend tabuisiert und beschäftigt die Öffentlichkeit bestenfalls in der Adventzeit.“ Dabei werde aber vergessen: „Wer bei Kindern spart, spart an der Zukunft. Denn Kinder, die in Armut leben, erkranken öfter, zeigen vermehrt Entwicklungsstörungen, erkranken häufiger psychisch, sind stärker suizidgefährdet und sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung. Sie sind die chronisch Kranken von morgen!“

Gerade auch die Corona-Pandemie habe die Situation von Armutsbetroffenen noch weiter verschärft: „Die Zahl von psychisch bedingten Erkrankungen, insbesonders bei Kindern und Jugendlichen, ist in die Höhe geschnellt, das Betreuungsangebot im Gegenzug aber nicht. Es ist höchste Zeit, hier effektiv gegenzusteuern.“

Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, ergänzt dazu: „Ein Leben in Armut schädigt die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Das ist wissenschaftlich vielfach bestätigt und keine Neuigkeit. In unserer gemeinsamen Umfrage wollten wir daher genauer beleuchten, wie vielfältig diese Schädigungen sein können und wie früh sie beginnen können. Die Ergebnisse sind alarmierend und zeigen großen Handlungsbedarf.“

Die Einschätzungen der Ärztinnen und Ärzte zu den gesundheitlichen Risiken durch Kinderarmut sind für die Arbeit der Volkshilfe sowohl Bestätigung als auch Ansporn: „In einem der reichsten Länder der Welt müssen wir es uns leisten können, allen Kindern jene medizinische und psychosoziale Versorgung zu bieten, die sie benötigen, um ein gelingendes Leben führen zu können.“

Zu den Ergebnissen

Fast neun von zehn Ärztinnen und Ärzte sagen, arme Kinder sind öfter krank

85 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte beobachten, dass armutsbetroffene Kinder und Jugendliche häufiger krank sind. Bei den Kinderärztinnen und -ärzten sind es insgesamt 90 Prozent, wobei 100 Prozent der teilgenommen Wiener, Salzburger und Vorarlberger Kinderärztinnen und -ärzte angeben, dass armutsbetroffene Kinder häufiger krank sind. Zahlreiche Studien bestätigen diese professionelle Einschätzung, wie etwa die deutsche, breit angelegte Studie zur gesundheitlichen Lage von Kindern (KIGGS-Studie, Thamm et al. 2018). Ein Aufwachsen in Armut beeinträchtigt den objektiven und subjektiven Gesundheitszustand maßgeblich. Auch das Robert-Koch-Institut weist auf die Häufung von Diabetes, depressiver Symptomatik und Adipositas bei armutsbetroffenen Menschen hin (Lampert et al. 2013).

Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit vor allem strukturell

Als häufigste Ursache für diese gesundheitliche Ungleichheit wird von den Ärztinnen und Ärzten der strukturelle Mangel von gesundheitsfördernden Lebensumständen benannt. 82 Prozent sagen, Kinder sind aufgrund der psychosomatischen Folgen der Armutslage – etwa schlechte Wohnverhältnisse, wie Schimmel oder Kälte, aber auch Mobbing und Stress – häufiger krank. Bei den Kinderärztinnen und -ärzten nennen gar 89 Prozent diese Ursache. Der permanente existentielle Stress, den armutsbetroffene Kinder und Jugendliche tagtäglich erleben, schädigt also nach Einschätzung der Befragten massiv die Gesundheit der Kinder.

Auf Platz zwei und drei der Ursachen für häufigere Krankheit werden „Hohe Kosten für gesunde Ernährung“ (54 Prozent) und „Fehlende bewegungs-/entwicklungsfördernde Angebote im Kleinkindalter“ (53 Prozent) genannt. Beide Zusammenhänge, sowohl Bewegung als auch Essgewohnheiten, sind gut erforscht. Feichtinger (2000) zeigt etwa auf, dass Kleinkinder aus armutsbetroffenen Familien geringere Mengen an Vitaminen, Ballaststoffen und Mineralien zu sich nehmen.

In etwa ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte nennt auch Diskriminierungserfahrungen als Grund für die häufigeren Erkrankungen. Diese Einschätzung teilen vor allem Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater (27 Prozent), die mehr Zeit für Gespräche mit ihren Patientinnen und Patienten haben als andere Fachrichtungen – ein Faktor, der in der Armutsforschung noch zu kurz kommt.

Häufig psychosomatische Belastungen

Die Frage, ob in der beruflichen Praxis bei Kindern aus armutsgefährdeten Familien vermehrt psychosomatische Belastungen beobachtet werden, bejahen drei Viertel der Befragten (41 Prozent „häufig“, 37 Prozent „manchmal“). Die Gruppe der Kinderärztinnen und -ärzte, die an der Umfrage teilnahm, bestätigt dies mit 90 Prozent noch einmal deutlich stärker (62 Prozent „häufig“, 28 Prozent „manchmal“).

Die Corona-Krise als besondere Belastung

Zwei Drittel (66 Prozent) sagen, dass armutsbetroffene Kinder stärker von Bewegungsmangel durch die Corona-Krise betroffen sind, wobei die Zahlen für Wien (82 Prozent) besonders hoch sind. Bei den Kinderärztinnen und -ärzten geben das österreichweit 82 Prozent an, bei den Wiener Kinderärztinnen und -ärzten sind es sogar 90 Prozent. Das wird auch durch Studien in Deutschland bestätigt, wonach jene, die sich mehr bewegten, vor allem in Einfamilienhäusern und kleinen Gemeinden leben, während Kinder und Jugendliche, die am wenigsten aktiv waren, in mehrstöckigen Häusern in Großstädten leben (Schmidt et al. 2020).

Stärkere psychische Belastung von armen Kindern

85 Prozent der befragten Medizinerinnen und Mediziner gaben an, dass armutsbetroffene Kinder in ihrer Wahrnehmung in der Corona-Krise stärker psychisch belastet wurden als Kinder aus finanziell gut abgesicherten Familien. Bei Kinderärztinnen und -ärzten sowie Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiatern sind es sogar 91 Prozent, die diese Einschätzung teilen. Es verwundert daher nicht, dass Ärztinnen und Ärzte unter anderem einen Ausbau an Psychotherapieplätzen fordern.

Gesundheitliche Nachteile schon im Säuglings- und Kleinkindalter

Sechs von zehn Befragten bemerken in ihrer beruflichen Praxis bei Armutsbetroffenen einen schlechteren Gesundheitszustand schon im Säuglings- und Kleinkindalter (Anm.: Der Prozentanteil mit „keine Angabe“ ist bei dieser Frage relativ hoch, was sich daraus erklärt, dass nur ein Teil der Medizinerinnen und Mediziner Kleinkinder behandelt). Rechnet man nur jene mit einer eindeutigen Angabe heraus, sind es 82 Prozent, also acht von zehn Ärztinnen und Ärzten, die gesundheitliche Nachteile schon im Kleinkindalter sehen. Auch 83 Prozent der befragten Kinderärztinnen und -ärzte liegen bei dieser Einschätzung. Genannt werden unter anderem Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen und motorischen Bereich. Die Volkshilfe fordert in diesem Zusammenhang den massiven Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen für alle Altersgruppen und den Ausbau an niederschwelligen, kostenfreien Angeboten für Eltern und Kleinkinder. Dieses Ergebnis verweist auch auf den Bedarf, hier weitere Forschungsergebnisse zu generieren. In Österreich gibt es dazu kaum Daten und Fakten.

Welche Maßnahmen fordern Ärztinnen und Ärzte, um die Gesundheit aller Kinder zu sichern?

Abschließend wurde gefragt, welche Maßnahmen die Medizinerinnen und Mediziner für besonders wichtig halten, um den Gesundheitszustand armutsbetroffener Kinder abzusichern. Zu den Top vier gehören hier für die Befragten ausreichend kostenlose Therapieplätze für Kinder bei medizinischer Indikation (66 Prozent), kostenfreie Maßnahmen zur Mund-, und Zahngesundheit für alle unter 18 Jahren (61 Prozent), die rasche Erweiterung der Krankenkassenplätze für Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (54 Prozent) sowie die Reform beziehungsweise der Ausbau der Kassenverträge im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde. Aber auch den Ausbau der Gesundheitsbetreuung an Schulen nennt eine Mehrheit (50 Prozent) als besonders wichtige Maßnahme.

Die von den Ärztinnen und Ärzten priorisierten Forderungen finden sich auch im Policy Paper der Volkshilfe zu Kindergesundheit wieder.

Starke finanzielle Absicherung notwendig

76 Prozent der Befragten sagen auch, dass es eine starke finanzielle Absicherung von Kindern und Jugendlichen braucht, um gesundheitliche Ungleichheit auszugleichen.

„Wir wissen aus unserer Forschung, dass eine Kindergrundsicherung wirkt und die gesundheitlichen Belastungen und Symptome der Kinder durch die nachhaltige finanzielle Sicherung deutlich abnehmen. Dass auch die Mehrheit der befragten Ärztinnen und Ärzte eine starke finanzielle Absicherung fordert, bestätigt unseren Weg im Kampf gegen Kinderarmut und für die Einführung einer Kindergrundsicherung in Österreich“, so Fenninger abschließend.


Umfragedesign

Online-Fragebogen; Feldzeit: August bis September 2021, n=448; Teilnahme: Ärztinnen und Ärzte aus Wien, Niederösterreich, Burgenland, Salzburg, Kärnten und Vorarlberg; ein Viertel (25 Prozent) arbeitet ausschließlich mit Kindern (Kinderärztinnen und -ärzte sowie Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater), mehr als ein Drittel (37 Prozent) sind als Allgemeinmedizinerin und -mediziner tätig.

Zahlen zur vereinfachten Lesbarkeit der Daten gerundet; Rückfragen zum Datensatz: mmmaGFubmEubGljaHRlbmJlcmdlckB2b2xrc2hpbGZlLmF0.

Studienquellen

Feichtinger, Elfriede (2000): Ernährung in Armut; in: Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Sektion Niedersachsen (Hrsg.): Suppenküchen im Schlaraffenland. Ernährung und Armut von Familien und Kindern in Deutschland. Tagungsreader; Hannover.

Lampert, Thomas/Kroll, Lars Eric/von der Lippe, Elena/Müters, Stephan/Stolzenberg Heribert (2013): Sozioökonomischer Status und Gesundheit. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1); in: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 56 (5). S. 814-821, DOI: 10.1007/s00103-013-1695-4.

Schmidt, Steffen C.E./Anedda, Bastian/Burchartz, Alexander/Eichsteller, Ana/Kolb, Simon/Nigg, Carina/Niessner, Claudia/Oriwol, Doris/Worth, Annette/Woll, Alexander (2020): Physical activity and screen time of children and adolescents before and during the COVID-19 lockdown in Germany: a natural experiment; in: Scientific Reports, 10 (1); S. 21780, https://doi.org/10.1038/s41598-020-78438-4.

Thamm, Roma/Poethko-Müller, Christine/Hüther, Antje/Thamm, Michael (2018): KiGGS Welle 2 – Gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen; in: Journal of Health Monitoring 2018 3(3); Robert Koch-Institut, DOI 10.17886/RKI-GBE-2018-075.



Kontakt für Journalisten-Rückfragen:

Ärztekammer für Wien, Dr. Hans-Peter Petutschnig
0664/1014222, mmmaHBwQGFla3dpZW4uYXQ=

Volkshilfe Österreich – Kommunikation, Ruth Schink
0676/83402222, mmmcnV0aC5zY2hpbmtAdm9sa3NoaWxmZS5hdA==